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Der Index des Fachkräftemangels in der Schweiz für 2024 deutet eine gewisse Entspannung an, aber die Situation hat sich noch längst nicht entschärft. Für Unternehmen der MEM-Branche ist es nach wir vor schwierig, qualifiziertes Personal zu finden und auch bei der Rekrutierung von Nachwuchs hapert es. Was läuft da schief ?
Tatsächlich haben Berufe in der industriellen Fertigung einen schweren Stand. Und eine akademische Laufbahn geniesst in weiten Kreisen mehr Prestige als eine Berufslehre, insbesondere, wenn diese in einer technischen Umgebung angesiedelt ist. Wer will sich schon die Hände schmutzig machen, wenn es auch anders geht ?
Für Nicola R. Tettamanti ist klar, dass die MEM-Berufe unter Vorurteilen leiden, die es dringend zu entkräften gilt. Was ist zu tun ? Und welche Rolle kann der Verband Swissmechanic dabei spielen ? Andreas Bachmann, Geschäftsführer bei der Bachofen AG, und Christof Bolliger, Leiter Produkte & Partner bei der Bachofen AG, haben nachgefragt.
Andreas Bachmann : Herr Tettamanti, weshalb sind MEM-Berufe nicht cool ?
Nicola R. Tettamanti : Berufe in der Industrie werden oft als schmutzig, altmodisch, ungesund und physisch anstrengend dargestellt. Tatsächlich hatten wir ein Imageproblem. Cool wird der MEM-Beruf, wenn man den Sinn aufzeigt. Die Industrie löst Probleme für die Gesellschaft, für die Umwelt, für unser Wohlbefinden. Diese Botschaft müssen wir rüberbringen. Für die Jugendlichen ist die Sinnfrage wichtig. Und wir müssen uns gut überlegen, wie wir sie auch ausserhalb der Berufsmessen erreichen.
Christof Bolliger : Die technischen Berufe zählen zu denjenigen, die am stärksten vom Nachwuchsmangel betroffen sind. Weshalb ?
NT : In technischen Berufen ist zu einem grossen Teil harte Arbeit gefragt. Das wirkt auf manche Jugendliche abschreckend. Der zweite Grund ist möglicherweise die verbreitete Meinung, dass es beispielsweise in kaufmännischen Berufen mehr Möglichkeiten zur Weiterentwicklung gibt. Richtig ist, dass man auch in technischen Berufen in Führungspositionen aufsteigen kann, wenn die entsprechenden Soft Skills vorhanden sind.
AB : Was unternimmt Ihr Verband gegen den Nachwuchsmangel ?
NT : Wir haben das Problem schon längst erkannt und tun eine ganze Menge. Mit den Zentren für die überbetriebliche Ausbildung übernimmt Swissmechanic einen wichtigen Teil der Berufsbildung. Auch unsere 14 Sektionen und Partnerorganisationen unternehmen einiges, um Jugendlichen den Einstieg in einen MEM-Beruf schmackhaft zu machen. Als Verband unterstützen wir – gemeinsam mit Swissmem und anderen Akteuren – die Bestrebungen, Berufs- und Branchenmarketing zusammenzuführen und für die MEM-Branche eine einheitliche Positionierung zu entwickeln.
CB : Die Berufslehre hat für viele einen geringeren Stellenwert als die akademische Ausbildung. Ist sie ein Auslaufmodell ?
NT : Im Gegenteil ! Wir dürfen auf das duale System stolz sein, um das uns viele Länder beneiden. In der Berufsbildung entwickeln junge Menschen Verständnis für den Beruf und Verständnis dafür, wie ein Unternehmen funktioniert. Sie erhalten einen konkreten Einblick in die Arbeitswelt und gehören von Anfang an dazu. Die Kombination von Arbeit im Betrieb und Berufsschule, ergänzt durch überbetriebliche Kurse, ist ein geniales Ausbildungskonzept.
AB : Und wie argumentieren Sie, wenn Sie einen jungen Menschen überzeugen wollen, eine MEM-Lehre zu absolvieren, statt eine Handelsmittelschule zu besuchen ?
NT : Spannend an der Berufslehre ist, dass sie ein klares Bild vom Wirtschaftsgeschehen vermittelt und dass sie die Arbeitswelt hautnah erlebbar macht. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass Lernende bereits einen kleinen Lohn erhalten, was ihr Selbstbewusstsein stärkt und sie ein wenig unabhängiger macht.
CB : Themen wie Abwanderung von Unternehmen, Deindustrialisierung, steigende Energiepreise und weitere Probleme der Industrie sorgen immer wieder für Negativ-Schlagzeilen. Welche Perspektiven können Sie vor diesem Hintergrund jungen Berufseinsteigenden aufzeigen ?
NT : Unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft werden niemals auf die Erzeugnisse der Technologieunternehmen verzichten können. Und diese wiederum sind immer auf fähige Berufsleute angewiesen. Das sind grundsätzlich positive Aussichten. Natürlich verläuft die Entwicklung der Tech-Branche zyklisch, aber übers Ganze gesehen ist die Industrie in der Schweiz seit Jahren erfolgreich unterwegs. Sie hat es immer wieder geschafft, Krisen zu meistern und dies ohne jede staatliche Unterstützung. Diese Widerstandskraft und Stabilität geben den Beschäftigten Sicherheit und schaffen Vertrauen.
AB : Wenn man die Sichtweise umkehrt, stellt sich die Frage, ob die Jugend von heute den Anforderungen einer Berufslehre im technischen Bereich gewachsen ist …
NT : Es gibt bei jungen Menschen sicher eine gewisse Erwartungshaltung, was Lebensqualität und Komfort betrifft. Aber ich bin überzeugt, dass die meisten von ihnen einsehen, dass man im Leben ohne Leistung und Engagement nichts erreicht. Wichtig ist, dass wir ihnen den Zweck ihrer beruflichen Tätigkeit aufzeigen. Dass sie in einem technischen Beruf mithelfen, die Probleme von heute und morgen zu lösen, beispielsweise beim Klimaschutz oder bei der Reduktion des Energieverbrauchs. Der Zweck ist für sie ebenso wichtig wie ein guter Lohn.
AB : Im Rahmen von FUTUREMEM startete Swissmechanic im Jahr 2017 zusammen mit Swissmem eine Berufsbildungsreform für technischen Berufe …
NT : FUTUREMEM steht für eine umfassende Berufsrevision, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Die zurzeit acht MEM-Berufe wurden einer vertieften Überprüfung unterzogen und die Berufsbilder auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in der MEM-Branche ausgerichtet. Wir haben das neue Berufsbildungskonzept dem Bundesamt für Bildung, Forschung und Innovation vorgelegt. Nun findet unter Einbezug der Kantone und weiteren Akteuren im Bildungssystem eine Vernehmlassung statt. Wird unser Vorschlag gutgeheissen, werden wir 2026 den ersten Lehrgang gemäss der neuen Ausbildungsmethodik starten. 2028 werden wir die ersten Resultate vorlegen können.
CB : Welches sind die Schwerpunkte von FUTUREMEM ?
NT : Erstens die Digitalisierung der Lernumgebung mit einer entsprechenden Anpassung der Didaktik. Wir haben einen digitalen Lernpfad entwickelt, der die Lernorte miteinander verknüpft und auf dem sich die Lernenden besser, schneller und vernetzter bewegen können. Ein zweiter Punkt ist die Prüfung respektive Bewertung der Leistungen. Wir wollen sicherstellen, dass die Lernenden in der digitalisierten Bildungswelt gerecht und korrekt geprüft werden. Ein drittes Element von FUTUREMEM ist das Berufsmarketing, das wir unter dem Motto « Faszination Technik » mit hoher Intensität weiter betreiben.
CB : Ich komme nochmals auf den Fachkräfte- respektive Nachwuchsmangel zurück. Sind technische Berufe per se Männerberufe ? Oder etwas provokativer gefragt : Sind junge Frauen für Berufe in der Tech-Branche ungeeignet ?
NT : Es gibt die überholte Vorstellung, dass an einer Maschine ein Mann stehen muss. Ich bin dezidiert anderer Meinung. Wir werden in der Umsetzungsphase von FUTUREMEM Strategien entwickeln, um auch junge Frauen anzusprechen und sie für technische Berufe zu begeistern.
CB : Da haben Sie grossen Nachholbedarf. Laut einem Report der Uni St. Gallen ist der Frauenanteil in der Tech-Branche gegenüber der Gesamtwirtschaft rund 25 Prozent tiefer, obwohl Frauen in der MEM-Industrie gute Karrierechancen haben.
NT : Ich fände es nicht fair, die MEM-Branche gegen andere Branchen ausspielen zu wollen. Interessant wäre zu wissen, wo wir im Vergleich zu Branchen stehen, die ebenfalls historisch bedingt von Männern dominiert werden. Das ist das eine. Das zweite : MEM-Berufe sind heute de facto auch für Frauen attraktiv, und Themen wie Work-Life-Balance oder Kinderbetreuung sind schon längst auch in unserer Branche angekommen. Aber nachdem die Arbeit in der Industrie über Jahrhunderte als hart und schmutzig wahrgenommen wurde, können wir nicht erwarten, dass uns die Frauen in Scharen zulaufen. Wir haben noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.
AB : In der Unternehmensberatung kursiert der Begriff « People-First-Unternehmen ». Was halten Sie davon ?
NT : Das Führungsprinzip People First gilt in der MEM-Industrie seit eh und je. Praktisch alle Mitglieder von Swissmechanic sind KMU, viele davon Familienbetriebe. Dass die Mitarbeitenden für den Unternehmenserfolg entscheidend sind und dass man Sorge zu ihnen trägt, ist in der Firmenkultur dieser KMU fest verankert. Sie werden von Unternehmern und Unternehmerinnen geführt, die ihre Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden wahrnehmen und sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Das ist zweifellos mit ein Grund, dass viele dieser Firmen über Jahrzehnte erfolgreich unterwegs sind und Krisen überstehen.
AB : Apropos Mitarbeiterführung – vor allem bei kleineren Unternehmen gibt es keine Personalabteilung oder eine Fachkraft, die sich um personelle Fragen kümmert. Wie sollen sie damit zurechtkommen und sicherstellen, dass sich die Mitarbeitenden gut betreut fühlen ?
NT : Genau dafür sind Organisationen wie unser Verband da. Swissmechanic wurde übrigens 1939 als Schweizerischer Mechanikermeister-Verband gegründet – mit dem Ziel, die Betriebe in der Berufsbildung zu unterstützen. Heute stellen wir für unsere Mitglieder ein breit gefächertes Dienstleistungsangebot rund um Führungsfragen zur Verfügung, denn diese stellen sich in einem Kleinunternehmen genauso wie in einem Grossbetrieb.
AB : Konkret ?
NT : Unsere aktive Mitwirkung in der Berufsbildung und die Unterstützung im Bereich Weiterbildung sind die Grundpfeiler unseres Engagements. Hinzu kommen Kaderausbildung, Wissensvermittlung und Beratung in Personal- und Rechtsfragen, eine Branchenlösung für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, vielfältige Möglichkeiten für Austausch und Vernetzung und vieles mehr.
CB : Stichwort Kaderausbildung. In der Tech-Branche herrschte in der Vergangenheit ein von der Männerwelt geprägter Führungsstil vor. Was heisst das für Mitarbeitende, die in Führungspositionen aufsteigen und vor allem über technische Kompetenzen verfügen ?
NT : Wenn ich eine technische Fachkraft zur Abteilungsleitung mache, geht es nur gut, wenn diese auch über Soft Skills verfügt. Im Vordergrund stehen Kommunikationsfähigkeit, Sozialkompetenz, Empathie und Konfliktfähigkeit. Coaching und der Besuch von entsprechenden Weiterbildungskursen sind unabdingbar. Die Angebote sind vorhanden, auch von Seiten der Verbände. Man muss sie nur nutzen.
AB : Im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel muss auch das Thema Fachkräfte aus dem EU-Raum respektive Grenzgänger zur Sprache kommen. Welche Bedeutung haben diese für Sie als Unternehmer ?
NT : Mit unserem Betrieb im Tessin sind wir auf Grenzgänger angewiesen. Und ich muss sagen, dass das Tessin als Wirtschaftsraum ohne Personal aus dem Ausland nicht mehr funktionieren würde. Das dürfte auch für die Wirtschaftsräume Genf, Basel oder Schaffhausen zutreffen. Schweizweit sind zurzeit rund 400 000 Grenzgänger beschäftigt. Ohne sie würde das System kollabieren. Der Zuzug aus dem Ausland, damit meine ich auch Festangestellte aus der EU, stützt unsere Wirtschaft. Das mag Nebeneffekte haben, die man nicht unter den Tisch wischen sollte. Aber wir müssen vernünftig mit diesen umgehen.
CB : Eine letzte Frage : Was fasziniert Sie persönlich an der Technik ?
NT : Offen gesagt, ich habe mich als Kind mit der Technik schwergetan und bin technisch nicht sehr begabt. Was ich aber spannend finde, und was mich zur Technik hinzieht, sind die fantastischen Dinge, die sie hervorbringt : Dinge zum Anfassen, Dinge, die unsere Wirtschaft in Schwung halten, Produkte, die Leben retten, die Uhren ticken lassen, die uns mobil machen, die die Welt voranbringen. Oft stecken in diesen Produkten technische Spitzenleistungen und das Herzblut unserer KMU, also ein bisschen Schweiz. Ich finde, darauf dürfen wir stolz sein.
Das Gespräch fand am 24. Januar 2025 bei der Bachofen AG in Uster statt.