Aufbruch in die postpandemische Ära : Quo vadis, Schweizer Industrie ?

Die schweizerische Industrie hat sich während der Pandemie erstaunlich gut geschlagen : allen voran die Hersteller von Medizintechnik, die dank der krisenbedingten hohen Nachfrage nach Medtech-Produkten zulegten. Aber auch die MEM-Industrie und weitere Branchen blicken nach bewegten Phasen zwischen Bangen und Hoffen wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Doch trotz Aufschwung kann von einem Zurück zum Business as usual keine Rede sein.

Die Rohstoff- und Energiepreise klettern in die Höhe, noch immer gibt es Engpässe in den Versorgungsketten und die Handelskonflikte auf globaler Ebene verschärfen sich zunehmend. Hinzu kommen die – mindestens teilweise – hausgemachten Probleme der Schweiz wie das ungeklärte Verhältnis zur EU, der mittelfristig drohende Kollaps der Energieversorgung oder der akute Mangel an Fachkräften. Was bedeuten diese Herausforderungen für die Schweizer Industrie ?

Eine Einschätzung der Lage vermittelt Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, im Gespräch mit Daniel Bachofen.

Daniel Bachofen: Wie geht es der Schweizer Exportwirtschaft ?

Valentin Vogt : Im Moment gut bis sehr gut. Die Abschlüsse 2021 der Unternehmen, bei denen ich involviert bin, deuten auf ausgezeichnete Ergebnisse hin. Die Aussichten für 2022 beurteile ich grundsätzlich positiv. Die grosse Frage ist, wie es 2023 weitergeht.

DB : Wie beurteilen Sie die Situation bei den Lieferketten und den damit verbundenen Unsicherheiten bei der Beschaffung ?

VV : Mit den Beschaffungsproblemen bei Elektronikkomponenten werden wir wohl noch eine Weile leben müssen. Bei Werkstoffen sind die Pro­bleme in den Lieferketten aus meiner Sicht temporär: Verarbeiter bestellen das Eineinhalbfache der Menge, die sie effektiv brauchen. Sie erhalten dann nur einen Bruchteil davon und bestellen in der Folge dreimal so viel …

DB : … was zu einem Anstieg der Preise führt.

VV : Genau. Die Unternehmen können in eine gefährliche Spirale geraten, welche ein neues Problem verursacht : Die laufenden Überbestellungen führen zu überteuerten Lagern, die später wieder abgeschrieben werden müssen.

DB : Kennen Sie Firmen, die ihre Produktion stoppen mussten, weil sie die benötigten Komponenten nicht erhielten ?

VV : Mir ist ein Zulieferer der Automobilindustrie bekannt, der wegen Beschaffungsproblemen im März 2021 wieder auf Kurzarbeit umstellen musste. Die meisten Industrieunternehmen in der Schweiz sind jedoch in der Lage, Lieferengpässe dynamisch zu managen. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass wir im Sommer dieses Jahres die Beschaffungsproblematik grösstenteils hinter uns lassen werden.

DB : Haben sich die Unternehmen, bei denen Sie engagiert sind, Gedanken zu einer Neuausrichtung der Lieferketten gemacht? Ich denke beispielsweise an Double Sourcing, partielles Insourcing oder den Wechsel zu Anbietern auf anderen Kontinenten.

VV : In verschiedenen Firmen ist man sich wieder einmal bewusst geworden, was es bedeutet, wenn wichtige Komponenten nicht verfügbar sind. Es wurden Grundsatzdiskussionen geführt und Denkprozesse in Gang gesetzt. Für die strategische Beschaffung wurden Szenarien entwickelt und Vorgehensweisen definiert. Nun geht es wie nach jeder Krise darum, die erforderlichen Massnahmen umzusetzen und nicht abzuwarten, bis die nächste Krise kommt.

DB : Wir stellen fest, dass unsere Kunden tendenziell kein Single Sourcing mehr wollen. Oder dass sie Komponenten inhouse designen, wenn die Kosten vertretbar sind.

VV : Die Erfahrungen aus der Pandemie haben sicher das Bewusstsein für die Abhängigkeit der Produktion von der Beschaffung gestärkt. Vor allem bei Unternehmen, die keine eigenen Lager mehr halten. Deren Anzahl hat sich in den letzten Monaten deutlich verkleinert.

DB : Der Handelskrieg zwischen den USA und China könnte dazu führen, dass für die beiden Märkte unterschiedliche Normen gelten und dass Unternehmen entsprechend unterschiedliche Produkte herstellen müssten. Das wäre das Worst-Case-Sze­nario, schlimmer als Handels­hemmnisse oder Zölle.

VV : Die Situation hat sich tatsächlich verschärft. Grosse Unternehmen können es sich leisten, in beiden Märkten mit eigener Produktion und unterschiedlichen Produktportfolios aktiv zu sein und ihre Engagements auszubauen. China ist ja nicht einfach ein Land, sondern ein Kontinent mit rund 1,4 Milliarden Konsumenten, also ein gigantischer Markt.

DB : Und KMU, die heute in die USA und nach China liefern ?

VV : Diese müssten sich wohl oder übel entscheiden. Die Schweizer Industrie kann sich den weltweiten Einflüssen nicht entziehen und ist momentan auch im europäischen Kontext in einer schwierigen Lage.

DB : Sie sprechen das Verhältnis der Schweiz zur EU an. Deutschland hat Bereitschaft signalisiert, im Medizinbereich schweizerische Bewilligungen und Zertifikate anzuerkennen, wurde aber von Brüssel zurückgepfiffen …

VV : Mit dem Scheitern der Verhandlungen zum Rahmenabkommen ist auch das bisherige Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen MRA* in der Schwebe, genau wie Horizon. Das ist leider der Preis, den wir für den Verhandlungsabbruch zahlen müssen.

DB : Und wie soll es weitergehen ?

VV : Es ist Zeit, dass der Bundesrat das Heft in die Hand nimmt und mit einem konkreten Vorschlag auf die EU zugeht. Ideen liegen auf dem Tisch. Es gilt nun, diejenigen herauszufiltern, die innenpolitisch mehrheitsfähig und aussenpolitisch akzep­tabel sind.

DB : Könnte die Schweizer Industrie auch ohne Abkommen in die EU exportieren, wenn es ihr weiterhin gelingt, Produkte mit Alleinstellungs­merkmalen herzustellen ?

VV : Wir müssen auch den Import beachten. Zum Beispiel ist Deutschland daran interessiert, Industrieprodukte in der Schweiz zu verkaufen. Wenn aber für den kleinen Schweizer Markt eigene Spezifikationen und Verantwortliche definiert werden müssen, werden ausländische Unternehmen davon absehen, den Schweizer Markt überhaupt zu beliefern. Sicher stellen wir gute und innovative Produkte her, aber wir müssen mit dem MRA und Horizon einen Weg finden. Wir können diese Probleme nicht länger vor uns herschieben.

DB : Wenn wir davon ausgehen, dass rund 65 % des Umsatzes der Schweizer MEM-Industrie in EU- und EFTA-Ländern verdient werden, hängt die Zukunft des  Werkplatzes Schweiz weitgehend von deren Wettbewerbsfähigkeit in diesen Märkten ab …

VV: Vor allem Schweizer KMU sind auf Absatzmärkte in der Nähe angewiesen. Man kann nicht mit einem Lieferwagen in die USA oder nach China fahren, aber sehr wohl nach Lyon oder München. Auch kulturelle Unterschiede erschweren das Geschäft mit aussereuropäischen Abnehmern. Viele Schweizer KMU sind aus diesem Grund in China gescheitert.

DB : Eine weitere Herausforde­rung für die Industrie ist der Fach­kräftemangel. Wie akut schätzen Sie diesen ein ?

VV : Innerhalb der nächsten zehn Jahre müssen wir eine demografisch bedingte Lücke von rund 500’000 fehlenden Arbeitnehmenden füllen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Wir müssen das inländische Arbeitskräftepotenzial noch besser mobilisieren und insbesondere den Frauenanteil in der Industrie erhöhen. Potenzial gibt es auch bei älteren Menschen: Es gibt viele, die nach Erreichen des Pensionsalters weiterarbeiten wollen. Ausserdem werden wir auch weiterhin auf Zuwanderer aus dem Ausland angewiesen sein.

DB : Alarmismus herrscht zurzeit bei der Energiefrage. Ist die Gefahr eines Strommangels real oder ein Sturm im Wasserglas ?

VV : Mittelfristig werden wir ein Versorgungsproblem haben. Ich setze mich klar für alternative Energiequellen ein, wende mich aber ebenso dezidiert gegen Technologieverbote. Ich halte es beispielsweise nicht für zielführend, Atomkraft von vornherein als Option auszuschliessen.

DB : Wir werden uns gerade schmerzlich bewusst, wie abhängig wir von Stromimporten aus dem Ausland sind und dass Exportländer ebenfalls auf eine Stromknappheit zusteuern. Aus den aktuellen Zahlen des PMI** geht hervor, dass 86 % der Unternehmen in der Schweiz als Reaktion auf die Energiewende Investitionen planen. Was heisst das konkret ?

VV : Im Vordergrund stehen Energieeffizienzmassnahmen an Gebäuden und in der Produktion. Ich denke, in Sachen Energiesparen ist ein Ruck durch die Schweizer Industrie gegangen. Und nicht nur das: Auch die Verringerung des CO2-Ausstosses wird von den Unternehmen ernsthaft angegangen. Sie sehen darin auch einen Marktvorteil. Ich halte den Moment für gekommen, dass sich die Politik bei diesen Themen zurücknehmen kann und den Markt spielen lässt. Die Politik soll sich darauf fokussieren, dass das Angebot an Strom genügend gross ist und wir nicht in ein Versorgungsproblem laufen.

DB : Die OSTRAL*** warnt Grossverbraucher davor, dass bei einer Strommangellage Kontingentierungen oder gar Notausschaltungen ins Auge gefasst würden. Betroffen wären vor allem Unternehmen, die nicht nachweisen könnten, dass sie den Verbrauch reduziert haben oder mit Photovoltaik eigenen Strom produzieren. Was sagen Sie dazu ?

VV : Damit wären wir auf dem Weg in die Planwirtschaft. Der Staat würde bestimmen, wer Strom bekommt und wer nicht. Das kann es nicht sein. Energie sparen ist wichtig und Photovoltaik zweifellos eine gute Sache. Aber wir befinden uns nicht in einer Region, die mit Sonneneinstrahlung verwöhnt wird. Als kurzfristige Option kommen Gaskombikraftwerke in Frage. Die Technologie ist bekannt und funktioniert.

DB : Was tun ?

VV : Einerseits braucht es eine langfristige Strategie ohne Technologieverbote. Andererseits müssen wir kurzfristige Möglichkeiten wie die Gaskombitechnologie nutzen. Dass Handlungsbedarf besteht, kann niemand bezweifeln. Der Stromverbrauch nimmt kontinuierlich zu. Ein grosser Abnehmer sind zwischenzeitlich auch die ICT-Technologien, deren Anteil am Weltenergieverbrauch zurzeit bei 10 % liegt – Tendenz stark steigend.

DB : An Herausforderungen herrscht wahrlich kein Mangel. Drohen auch in der Schweiz eine Inflation und steigende Zinsen ?

VV : In Deutschland liegt die Infla­tionsrate bei 5 %, in den USA bei 7 %. Ich gehe davon aus, dass es auch in der Schweiz zu einem Teuerungsschub kommen könnte, wenn die Nationalbank die geldpolitischen Instrumente nicht bewusst einsetzen wird. Sie sollte den Geist der Inflation nicht aus der Flasche lassen, denn es dürfte schwierig werden, ihn wieder einzufangen.

DB : Eine letzte Frage : Wenn Sie als Präsident des Arbeitgeberverbandes einen Wunsch frei hätten, was wäre das ?

VV : Mir liegen nebst vielen anderen Themen vor allem zwei Dinge am Herzen: Erstens, dass wir unser Verhältnis zur EU klären, und zweitens, dass wir – nach Jahrzehnten der Diskussionen – die Altersvorsorge, AHV und 2. Säule, endlich langfristig sichern.

Das Gespräch fand Anfang Februar 2022 vor der Ukraine-Krise am Firmensitz der Bachofen AG in Uster statt.
* Mutual Recognition Agreements
** Purchasing Manager Index
*** Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen

Valentin Vogt: Stimme der Arbeitgeber, Stratege und Vollblutunternehmer

Valentin Vogt ist seit Juli 2011 Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes und selbständiger Unternehmer. Von 2011 bis 2020 war er Präsident des Verwaltungsrats und von 2000 bis 2011 CEO und Delegierter des Verwaltungsrats von Burckhardt Compression. Zuvor übte er im Sulzer-Konzern verschiedene Führungsfunktionen im In- und Ausland aus, zuletzt als Mitglied der Konzernleitung. Valentin Vogt gehörte von 2011 bis 2019 dem Wirtschaftsbeirat der Schweizerischen Nationalbank an. Er studierte an der Universität St. Gallen und schloss 1984 als lic. oec. HSG ab.

Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes
Daniel Bachofen: Geschäftsleiter der Bachofen AG
Daniel Bachofen, Geschäftsleiter der Bachofen AG